Diskussionsforum der stw-boerse: Strategiediskussionen: "Verflixte Psyche" - absolut lesenswert (Quelle: Die Zeit)
Stw - Mittwoch, 20. Oktober 1999 - 18:28
Verflixte Psyche
An der Börse machen Anfänger und Profis die gleichen Fehler. Die Irrtümer der Anleger sind ein interessanter Fall für die Verhaltensforscher Von Kolja Rudzio

Die Herren in dunklen Anzügen und einige wenige Frauen, die sich am Donnerstag vergangener Woche im Konferenzsaal E2 bei der Deutschen Bank in Frankfurt trafen, bewegen Milliarden. Mehr als 200 Fondsmanager, Finanzanalytiker und Aktienhändler international tätiger Banken und Investmentfirmen gaben sich ein Stelldichein - um an einem Psycho-Test teilzunehmen.

Das Ergebnis war ernüchternd. Denn am Ende standen die hoch bezahlten Spezialisten da wie eine Herde Schafe, die sich, von Instinkten und reflexhaftem Handeln geleitet, spielend leicht an der Nase herumführen lässt. Ausgerechnet von Universitätsprofessoren, den egg-heads, die nicht mehr an der Börse anlegen als das, was von ihrem bescheidenen C4-Gehalt übrig bleibt, ausgerechnet von ihnen mussten sich die Praktiker von der Front bescheinigen lassen, dass sie nicht mit mehr Verstand Entscheidungen fällen als die Studenten der Herren Hochschullehrer.

Das Experiment bestätigte die Erkenntnisse einer noch recht jungen, aus den Vereinigten Staaten stammenden Forschungsrichtung - der behavioral finance. Deren Kernaussage lautet: Anleger an der Börse, egal ob Anfänger oder Profis, handeln irrational und neigen zu bestimmten, immer wiederkehrenden Fehlern. Beispiel: Eine Hälfte der in Frankfurt versammelten Börsenprofis wurde gefragt, wie hoch sie die Wahrscheinlichkeit einschätzen, dass der Dow Jones bis zum Jahresende sinkt. Dann wurde die gleiche Frage mit Bezug auf den japanischen Nikkei-Index gestellt. Die andere Hälfte der Experten sollte dagegen angeben, wie wahrscheinlich es sei, dass der Dow und in seinem Gefolge auch der Nikkei bis Silvester fällt. Ergebnis: Das Szenario, in dem beide Indizes fallen, wurde für realistischer gehalten als die beiden zugrunde liegenden Einzelereignisse. Stochastisch barer Unsinn. Aber Menschen neigen dazu, plausibel miteinander verbundene Vorgänge für besonders wahrscheinlich zu halten. "Konjunktionsfehler" nennt sich das.

Unter Profis wie Kleinanlegern verbreitet ist auch die nachweisbar vermögensschädigende Neigung, ausgerechnet an den Aktien hartnäckig festzuhalten, die Verluste bescheren. Schon bei einem kleinen Kursgewinn werden dagegen selbst vielversprechende Papiere eilig abgestoßen. Der Grund für diesen so genannten Dispositionseffekt: Die Anleger richten ihr Handeln unvernünftigerweise danach aus, ob der Kurs ihrer Aktien gerade unter oder über dem ursprünglichen Kaufpreis liegt. Notiert ein Papier niedriger, so zeigen sich die Anleger weit risikofreudiger als im umgekehrten Fall. Sie klammern sich an die einmal getroffene Investitionsentscheidung, ignorieren sogar dieser widersprechende Nachrichten und scheuen sich, ihre Aktien im Minus zu verkaufen. Denn damit würden sie sich einen Fehler eingestehen, oder - wie es an der Börse entlarvend heißt - sie würden "Verluste realisieren".

"Magisches Denken" prägt das Auf und Ab der Kurse

Die Forschung, bei der Ökonomen, Soziologen und Psychologen Hand in Hand arbeiten, hat eine ganze Fülle solcher Verhaltensauffälligkeiten zutage gefördert, die den typischen Börsianer als reichlich verwirrten Menschen erscheinen lassen. Manche Laien mag das nicht erstaunen, weil sie schon immer zu ahnen glaubten, dass "die an der Börse alle verrückt sind". Doch für Wirtschaftswissenschaftler gilt in vielen Fällen immer noch der völlig rationale Homo oeconomicus als das zwar bewusst vereinfachende, dafür aber umso erfolgreichere Modell zur Analyse der Wirklichkeit.

Dieser Übermensch handelt denn auch stets zielstrebig, er wägt Kosten und Nutzen ab und versucht seinen eigenen Vorteil zu maximieren. Die Pioniere der behavioral finance vertreten dagegen den Standpunkt, dass die Abweichungen von diesem Standardmodell, die "Anomalien", so bedeutsam seien, dass psychologische Erkenntnisse stärker genutzt und Modelle begrenzter Rationalität weiterentwickelt werden müssten.

Wie weit man sich dabei womöglich von dem Vernunftsmodell entfernen muss, lässt das besonders düstere Bild erahnen, das Robert Shiller, Ökonomieprofessor in Yale, von den Akteuren an den Kapitalmärkten malt. Er vergleicht sie mit einer Schar Tauben aus einem berühmten Experiment des Sozialpsychologen Burrhus Skinner aus den vierziger Jahren. Skinner hatte seine Labortiere zuerst ausgehungert, um ihnen dann in festen Zeitintervallen von 15 Sekunden kleine Mengen Futter zu geben. Die Vögel glaubten daraufhin, dass ihr eigenes Verhalten die plötzliche Nahrungszufuhr ausgelöst habe. Eine Taube, die sich zu Beginn der Fütterung gerade umgedreht hatte, begann fortwährend zu rotieren, eine andere hackte auf einer bestimmten Stelle des Käfigs herum - im Glauben, das weitere Körnerangebot zu steuern. Magical thinking nennen das die Experten.

Nicht anders, so meint Shiller allen Ernstes, verknüpfen auch Menschen an der Börse (und nicht nur dort) völlig zusammenhanglose Koinzidenzen und richten ihr Verhalten danach. Das Irre dabei: An der Börse könnte die Magie, so Shiller, tatsächlich das erwartete Ereignis auslösen, sofern nur genug Marktteilnehmer daran glauben und entsprechend agieren.

Tief verwurzelte Verhaltensmuster können so das Auf und Ab an den Börsen prägen. Nach Auffassung der Forscher sind die Psycho-Macken sogar die Grundlage dafür, dass überhaupt so viel an der Börse gehandelt wird. Anleger neigten nämlich dazu, ihre eigenen Urteilsfähigkeiten systematisch zu überschätzen. Auf die Frage: "Wo sehen Sie die Telekom-Aktie in drei Monaten?" antworten sie mit viel zu eng gefassten Einschätzungen (etwa: "Zwischen 36 und 42 Euro").

Erst durch diesen Effekt der overconfidence sei es möglich, dass an den Börsen so viele Käufer und Verkäufer zusammenkämen - im festen Glauben, jeweils der andere mache ein schlechtes Geschäft. Besonders anfällig für diese naive Überheblichkeit sind übrigens Männer, wie der US-Ökonom Terrance Odean, einer der Pioniere der behavioral finance, bei der Auswertung von 35 000 Depots einer Bank festgestellt hat.

Obwohl die Finanzpsychologen den Anlegern bescheinigen, dass sie häufig irrational handeln, sind ihre Fehler vorhersehbar. "Und wenn man ein Verhalten vorwegnehmen kann, dann kann man auch davon profitieren", sagt Joachim Goldberg, Leiter der Abteilung Behavioral Finance, die die Deutsche Bank eingerichtet hat. Der umtriebige Banker beschäftigt sich schon seit Jahren geradezu leidenschaftlich mit diesem Forschungszweig. Fondsmanager und vermögende Kunden der Deutschen Bank lauschen seinen Vorträgen mittlerweile gerne. Goldberg organisierte auch jene Konferenz in Frankfurt, in deren Rahmen der Psycho-Test stattfand. Außerdem verfasste er zusammen mit dem Aachener Betriebswirtschaftsprofessor Rüdiger von Nitzsch eine Einführung in den Finanz-Behaviorismus, die helfen soll, typische Fehler zu vermeiden.

Selbst in den Vereinigten Staaten nutzen Investmentfonds wie der Behavioral Value Fund bereits die neuen Forschungserkenntnisse. Doch Thomas Gilovich, Psychologieprofessor am Center for Behavioral Economics and Decision Research der Cornell-Universität, dämpft hoch gesteckte Erwartungen. "Auch wenn Sie wissen, dass zwei Linien gleich lang sind, können Sie sich einer optischen Täuschung einfach nicht entziehen."

© beim Autor/DIE ZEIT 1999 Nr. 41

Techno - Sonntag, 31. Oktober 1999 - 15:05
Dieser Aufsatz aus der Zeit ist eigentlich DIE Existenzberechtigung schlechthin für technische Aktienanalyse. Von dem Autor wird treffend auf den Punkt gebracht, was Grundphilosophie der Charttechnik ist: Kein Mensch - auch kein Anleger - handelt immer rational - es gibt den Homo Oeconomicus schlichtweg nicht!
Was die Börsenkurse beeinflußt sind Psychologie und das Verhalten der Marktteilnehmer - dieses zu messen und (mehr oder weniger) erfolgreich vorherzusehen ist Aufgabe der (Chart-) Technik.
Provokante These, oder? Was meint Ihr?

isabellaflora - Donnerstag, 7. Juli 2005 - 17:27
Mit diesem kleinen thread, mit den letzten Beiträgen von 1999, kann ich eigentlich nur den heutigen Börsentag beschliessen ;-)

Zugegebermaßen habe ich das Phänomen der financial behaviour noch nie so am eigenen Depot erleben dürfen wie heute. Wieviele müssen die Aktien wegen einer grausamen Nachricht, die aber keine großen makroökonimschen Auswirkung aufweist, einfach aus Panik geworfen haben - am Nachmittag kam dann schon wieder die Sonne raus. Donner-Donnerwetter.

Wer an dunkle Mächte glaubt, könnte meinen, dahinter steckt brutalste Methode. Jedenfalls kann man wohl bei Kenntniss der Börsenpsychologie richtig was verdienen - hätte ich nie gedacht.

Gruß isabellaflora

stw - Freitag, 8. Juli 2005 - 09:31
Es gibt da einen alte Börsenweisheit (evtl. von KOstolany ?) die lautet: Politische Börsen haben kurze Beine.
Und die Kurseinbrüche aufgrund von solchen schrecklichen Anschlägen sind rein politisch bedingt und haben wie Du sagst keine nennenswerten wirtschaftlichen Auswirkungen. Daher war das gestern tatsächlich eine Kaufgelegenheit wenn man so will...

:-) stw

prof - Freitag, 8. Juli 2005 - 10:26
Nun, nach 0911 ging es aber zunächst eine komplette Woche bergab. Wer da sofort gekauft hat, musste zunächst weitere deutliche Einbußen verkraften. In den folgenden 1.5 Jahren hat sich der DAX nochmal halbiert. Da das richtige Timing zu finden war fast unmöglich.
Der Gorbi-Putsch im Sommer ´91 war hingegen eine erstklassige Kaufgelegenheit.

isabellaflora - Freitag, 8. Juli 2005 - 10:41
An 0911 wurde der Börsenhandel komplett ausgesetzt, was diesmal nicht der Fall war. Die grauenhaften Nachrichten in New York kamen stückchenweise die ganze Woche - also kein Wunder. Nein, was mich geradezu faszinierte war die Tatsache, dass viele Akteure vollkommen panisch verkauften, obwohl doch jedem, aber wirklich jedem, klar war, dass sich die Welt aus wirtschaftlichem Aspekten morgen ganz normal weiterdrehen würde - was bewegt die Leute ? Jedenfalls haben solche Aktionäre an der Börse ein schweres Leben, sind sie doch permament hochgradig irrational nervös, was hier vollkommen unangebracht ist. Klar kann man nervös werden, nur müssen dann die Rahmenbedingungen (Ölpreis, Umlaufrendite etc.) das auch evozieren.

Gruß isabellaflora

drwssk - Freitag, 8. Juli 2005 - 12:23
Und was mir besonders auffiel, nicht nur die 'großen' Werte fielen rasant, sondern auch kleine und kleinste Werte. Vielleicht sitzen zu viele auf hohen Buchgewinnen und nehmen erst einmal mit. Der Hinweis auf die Rahmenbedingungen von isabellaflora ist m.M. völlig korrekt. Solange die Zinsen in den jetzigen Dimensionen verharren, weiterhin genügend Liqidität vorhanden ist, müßte es weiter noch oben gehen.
be.

isabellaflora - Freitag, 8. Juli 2005 - 13:26
financial behaviour : das gestrige Gewitter, gleich einem Regenguss im Sommer (welch wunderbare derzeitige Übereinstimmung) ist ja auch wie eine Erfrischung und der Sommertag danach macht um so mehr Freude. Zugegebenermaßen waren mir die Tage davor sogar etwas zu heiß, hatten doch alle von den tollen Sommertagen geredet - und dann fange ich an a bisserle zu schwitzen ;-) Der Regenguss war also für die Börsenpsyche Labsal, allein die klimatischen Ursachen des Ergusses umtreiben mich wie die echten Klimasorgen.

Viel Spaß am Dagobert-Duck-Pool ;-)

Gruß isabellaflora

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