Diskussionsforum der stw-boerse: Sonstiges: Moralische Gratwanderungen
al_sting - Dienstag, 12. August 2014 - 20:08
Ich habe eine etwas ungewöhnliche Frage, und zwar eure ganz subjektiven, persönlichen moralisch begründeten Grenzziehungen. Wo würdet ihr eine Grenze ziehen, die eine Investition verbietet?

Erst einmal einfache Beispiele bei mir:
- Ein Rüstungskonzern wie Rheinmetall kommt bei mir nicht in die Tüte. Airbus mit starker Militärabteilung wäre ein harter Grenzfall (Tendenz nein), Daimler ist seiner Zeit mit einer relevanten Airbus-Beteiligung wäre wieder kein Problem gewesen, da diese Beteiligung nicht das Kerngeschäft betrifft.
LS Telcom, Software-Unternehmen im Bereich Funklizenzen, macht auch Geschäfte im Defense-Bereich. Dieses Geschäftsfeld ist sehr klein, unter 10% des Umsatzes, so dass ich es verkraftbar finde. Ich habe bei etwa 10% meine Schmerzschwelle.

Zunehmend unsicherer werde ich hingegen bei DNO, hier würde mich eure Einschätzung interessieren.
Hauptgeschäftsfeld ist Kurdistan. In meinen Augen ist die Rolle von DNO hier positiv einzuschätzen, sie stärken die m.E. berechtigten Interessen der Kurden, auch wenn sie damit den Nationalstaat schwächen könnten.
Deutlich kritischer sehe ich die Rolle von DNO in Somaliland. Hier haben sie in den letzten Jahren Lizenzen in einer Region erworben, die zwischen Somaliland und dem Nachbarn Puntland umstritten sind. Von Seiten Puntlands wurden große Teile dieser Flächen bereits 2006 dem schwedischen Explorer Lundin zugesprochen.
Hier sehe ich das ernsthafte Risiko, dass die Ölgeschäfte regionale militärische Konflikte schüren, weil beide Regionalstaaten (und notfalls gar beide Konzerne, DNO und Lundin) eigene Milizen schicken, um die Gegend unter die eigene Kontrolle zu bekommen.
Siehe z.B. http://www.puntlandobserver.com/dagaal-sweden-iyo-norway-ku-dhexmaray-batroolka-somaliya-norwegian-swedish-war-for-oil-in-somalia/
und http://www.aftonbladet.se/nyheter/article19134580.ab

Wirtschaftlich gesehen hat Somaliland (noch?) keine Bedeutung für DNO. Die Musik spielt in Kurdistan, hier steigt oder fällt der Unternehmenswert. In Somaliland laufen erst die allerersten geologischen Untersuchungen zu Ölvorräten, noch lange vor Probebohrungen u.ä. Allerdings scheint dort die Lage schon jetzt langsam zu eskalieren, wie dieser aktuelle Artikel zeigt: http://www.somalilandinformer.com/somaliland-an-unidentified-assailants-open-fire-to-dno-staffers-in-hudun/

Bislang war meine Einschätzung: Somaliland ist irrelevant, mich interessiert Kurdistan. Aber Somaliland könnte hässlich werden. Es könnte aber auch gut werden, wenn Somaliland und Puntland , DNO und Lundin einen guten Modus Vivendi finden und mit Öleinnahmen beide Regionen ihren Wiederaufbau und ihre Entwicklung finanzieren können, wie man es auch gerade in Kurdistan sieht.

Ich sehe es (noch ) als Gratwanderung, sehe aber Somaliland zunehmend kritischer.
Wie seht ihr das?
1. Radikaler: Aussteigen zum Zeitpunkt des Einstiegs in Somaliland (bzw als mir die fragwürdige Situation bewusst wurde)?
-2. Schmerzbefreiter: Gar nicht aussteigen, es geht um Aktien und nicht um Politik?
3. Differentiert: Ab einem gewissen Level sollte man einen Schlussstrich ziehen?

Ich plädiere für Antwort 3, bin aber verdammt unsicher bezüglich der geeigneten roten "bis hierher und nicht weiter"-Linie. Ich danke für fundierte Argumente und Meinungen.

levdul1 - Dienstag, 12. August 2014 - 20:28
Es kommt alle paar Jahre vor, daß auch bekannte und gut geführte Unternehemen sich etwas 'zu Schulden kommen lassen'.

Ich nenne hier nur ein paar Beispiele, inwiefern dies brisante Themen sind, muß jeder für sich selbst entscheiden:

Nestle - Milchpulverskandal Afrika
Siemens - Korruptionsaffäre
H&M - Kinderarbeit
Microsoft - Ausnutzung Monopolstellung

Trotzdem würde ich prinzipiell in jedes dieser Unternehmen wieder investieren.
Wenn in Unternehmen Fehlverhalten sichtbar wird, dann sind Staat bzw. Gesetzesgebung verantwortlich, hier wieder den Pfad der Tugend zu ebnen. Als Investor hat man oft nicht den Einblick über Hintergründe, Ausmaße und Verhältnismäßigkeit.

Zum Thema DNO in Somaliland würde ich das Unternehmen eher als Opfer denn als Täter betrachten. Ich kann mir vorstellen, daß sie Öl auch lieber ohne Bedrohung durch Krieg fördern würden.
Wenn Bedenken um die Sicherheit der Mitarbeiter besteht, dann kann man eine solche Unternehmung auch stillgelegen. Doch dann haben alle verloren.

hoyke - Mittwoch, 13. August 2014 - 07:52
Unabhängig von DNO- ich plädiere allgemein für Antwort 3........

prof - Freitag, 15. August 2014 - 10:18
Die Sache sehe ich ähnlich wie al:
Rheinmetall, EADS: Nein
Daimler: Ja

Bei DNO / Somaliland kenne ich mich nicht aus.

Generell sehe ich auch ein moralisches Problem bei: "Kaufen wenn die Kanonen donnern". Natürlich muss irgendjemand auch dann Aktien kaufen, sonst würden sie ja auf 0 fallen und damit ist Niemandem geholfen. Andererseits will man ja von der Krise profitieren. Im betreffenden Land sterben Menschen und man selbst hat nichts Anderes zu tun, als sich über seine Gewinnmaximierung Gedanken zu machen.
Auch der Kauf von Puts, die nicht der Depotabsicherung dienen, sondern die in der Erwartung der Verschärfung von Krisen gekauft wurden, sehe ich ein Problem.

Ein weites Feld
Prof

al_sting - Freitag, 15. August 2014 - 20:29
Ich habe schon gefürchtet, dass mir niemand bei der Frage zu Somalia weiterhelfen kann. Aber vielen Dank für eure Antworten.
Bezüglich Somalia baue ich vorerst darauf, dass die Lage nicht wegen DNO und Lundin eskaliert bzw. dass sich die beiden Unternehmen gemeinsam deeskalierende Lösungen finden, notfalls auf Druck ihrer jeweiligen Regierungen. Kriegstreiber sind ja weder in Schweden noch in Norwegen sehr populär.
Falls sich herausstellen sollte, dass mich meine Erwartungen und Hoffnungen trügen, könnte es sein, dass ich DNO einmal wegen Somalia und nicht wegen der kurdischen Geschäfte verkaufen werde.

Sieht so aus, als würde ich mir Prof grob übereinstimmen, wo die persönlichen Grenzen von Investments liegen könnten. Bezüglich "kaufen wenn die Kanonen donnern" widerspreche ich aber antschieden. Ich verstehe diese Redensart so, dass man kalte Nerven behalten soll, wenn die Mehrheit wegen schwer einschätzbarer Risiken panisch wird. Ich denke nicht, dass sich irgendjemand über die Kriege, Bürgerkriege und Militärputsche an den Außengrenzen Europas freut, von der Ukraine über den Irak, Syrien, Israel/Gaza, Ägypten bis hin zu Libyen - das ist nur noch traurig. Da freue ich mich rückblickend immer wieder, wie unblutig und arm an Hass und Racheaktionen die Wende im Osten Deutschlands gelang!

Aber zurück zum Thema: Wenn in einer Panik niemand irgendwann "in das fallende Messer" greift, sondern alle warten, bis es wieder aufwärts geht, kann es bei einer Panik gar keinen Boden geben - und das kann die Probleme für die betroffenen Länder noch ein ganzes Stück weiter verschlimmern.
Aber natürlich ist es bei solchen Griffen besonders wichtig, sich intensive Gedanken über ein angemessenes Niveau zum Eingreifen zu machen, daher werden solche Diskussionen zuweilen etwas länger und klingen in der analytisch konzentrierten, emotionsarmen Trockenheit auch leicht herzlos. :-(

al_sting - Montag, 19. Juni 2017 - 11:04
Interessantes Fundstück: Macht schädigt das Gehirn.
(Bezieht sich auf wirtschaftliche nicht weniger als auf politische Macht)

Power Causes Brain Damage
https://www.oveo.org/fichiers/power-changes-how-the-brain-responds-to-others.pdf
http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2017/07/power-causes-brain-damage/528711/

"[...]
The historian Henry Adams was being metaphorical, not medical, when he described power as “a sort of tumor that ends by killing the victim’s sympathies.” But that’s not far from where Dacher Keltner, a psychology professor at UC Berkeley, ended up after years of lab and field experiments. Subjects under the influence of power, he found in studies spanning two decades, acted as if they had suffered a traumatic brain injury—becoming more impulsive, less risk-aware, and, crucially, less adept at seeing things from other people’s point of view.

Sukhvinder Obhi, a neuroscientist at McMaster University, in Ontario, recently described something similar. Unlike Keltner, who studies behaviors, Obhi studies brains. And when he put the heads of the powerful and the not-so-powerful under a transcranial-magnetic-stimulation machine, he found that power, in fact, impairs a specific neural process, “mirroring,” that may be a cornerstone of empathy. Which gives a neurological basis to what Keltner has termed the “power paradox”: Once we have power, we lose some of the capacities we needed to gain it in the first place.

That loss in capacity has been demonstrated in various creative ways. A 2006 study asked participants to draw the letter E on their forehead for others to view—a task that requires seeing yourself from an observer’s vantage point. Those feeling powerful were three times more likely to draw the E the right way to themselves—and backwards to everyone else (which calls to mind George W. Bush, who memorably held up the American flag backwards at the 2008 Olympics). Other experiments have shown that powerful people do worse at identifying what someone in a picture is feeling, or guessing how a colleague might interpret a remark.
[...]
Powerful people “stop simulating the experience of others,” Keltner says, which leads to what he calls an “empathy deficit.”
[...]"

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