Diskussionsforum der stw-boerse: Börsen-Know-How: Thread der Guten Nachrichten
al_sting - Sonntag, 3. Februar 2019 - 13:10
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Über all den negativen Nachrichten ("bad news are good news") gehen (vermeintlich langweiligere) gute Nachrichten zuweilen unter. Das kann die eigene Sicht verzerren und mit der Zeit auch auf das Gemüt schlagen.

Deshalb sollten wir guten Nachrichten auch hier einen eigenen Faden widmen.
(Die Idee ist vom Forum "antizyklisch investieren" abgekupfert, ebenso wie die ersten Einträge.)

al_sting - Sonntag, 3. Februar 2019 - 13:26
21.02.2018, NZZ:
http://www.nzz.ch/feuilleton/die-aufklaerung-funktioniert-ld.1358560
Die Aufklärung funktioniert
Klimaerwärmung, mächtige Technologiekonzerne, wachsendes Wohlstandsgefälle innerhalb des Westens: Der Lauf der Welt bereitet vielen Menschen Sorge. Dabei wird die Welt immer besser.

Die Linke und die Rechte mögen sich über alles zanken, aber in einer Sache sind sie gleicher Meinung: Die Welt wird schlechter. Ob sich der Niedergang in wachsender Ungleichheit, Rassismus und Umweltverschmutzung manifestiert oder in Gestalt von Terrorismus, Kriminalität und moralischem Verfall – beide Seiten sehen dahinter ein grundlegendes Versagen der Moderne und eine tiefgreifende Krise des Westens. Sie blicken auf goldene Zeitalter zurück, in denen Amerika gross war, die Arbeiterschaft in gewerkschaftlich abgesicherten Verhältnissen gedieh und die Menschen ihren Lebenssinn in Glauben und Familie, in der Gemeinschaft und in der Natur fanden.

Solche Schwarzseherei ist entschieden unamerikanisch. Die USA wurden auf den Idealen der Aufklärung gegründet, auf der Vorstellung, dass menschlicher Erfindungsgeist und guter Wille durch Institutionen kanalisiert werden und in Fortschritt münden können. Diese Vorstellung mag naiv klingen angesichts der grossen Herausforderungen, denen wir uns heute zu stellen haben; aber wir können nur begreifen, wo wir stehen, wenn wir wissen, welch weiter Weg hinter uns liegt.

Die Zahlen sprechen
Es ist sehr einfach, Untergangsszenarien zu beschwören, wenn man rosig eingefärbte Bilder der Vergangenheit neben die bluttriefenden Schlagzeilen der Gegenwart hält. Aber wie sieht die Entwicklungslinie Amerikas und der Welt aus, wenn wir menschliches Wohlergehen über die Jahrhunderte weg anhand einheitlicher Parameter bemessen? Werfen wir also einen Blick auf die Zahlen (sie sind mehrheitlich auf Websites wie OurWorldinData, HumanProgress und Gapminder einzusehen).

Dreht man in der Geschichte der USA gerade einmal dreissig Jahre zurück, dann findet sich eine jährliche Mordrate von 8,5 pro 100 000 Einwohner. Elf Prozent der Amerikaner lebten, am Konsum gemessen, unter der Armutsgrenze. Und wir jagten 20 Millionen Tonnen Schwefeldioxid und 34,5 Millionen Tonnen Feinstaub in die Atmosphäre.

Die Welt ist heute etwa hundert Mal wohlhabender als vor zweihundert Jahren, und der Wohlstand ist gleichmässiger über Länder und Schichten verteilt.
Und heute? Die Mordrate beläuft sich auf 5,3 pro 100 000 – etwas mehr als die 4,4 im Jahr 2014. Von Konsumarmut sind 3 Prozent der Amerikaner betroffen. Und obwohl wir mehr Wohlstand generieren und mehr Auto fahren, beträgt der Ausstoss von Schwefeldioxid nur noch 4 Millionen Tonnen, derjenige von Feinstaub 20,6 Tonnen.

Auch im weltweiten Vergleich über dieselbe Zeitspanne macht die Gegenwart die bessere Figur. 1988 zählte man 23 Kriege, derzeit 12; die Opferzahl fiel von 3,4 pro 100 000 auf 1,2. Die Zahl der Atomwaffen sank von 60 780 auf 10 325. 1988 zählte man weltweit nur 45 demokratische Staatswesen mit insgesamt zwei Milliarden Einwohnern; heute sind es 103, die 4,1 Milliarden Menschen beherbergen. In jenem Jahr gab es 46 Ölkatastrophen, 2016 nur fünf. Und die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben und sich kaum ernähren können, fiel von 37 Prozent auf 9,6.

Gerechtigkeit und Chancen
Die Fortschritte, die sich um die Jahrtausendwende herum manifestierten, sind kein blosser Glücksfall. Vielmehr handelt es sich um die Fortsetzung eines Prozesses, der im späten 18. Jahrhundert durch die Aufklärung angestossen wurde und der die menschlichen Lebensverhältnisse in jedem Bereich verbessert hat.

Beginnen wir mit dem Kostbarsten, dem Leben selbst. Bis ins frühe 19. Jahrhundert betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in der Regel nicht mehr als etwa 30 Jahre. In den letzten zwei Jahrhunderten ist sie weltweit auf 71, in den entwickelten Ländern auf 81 Jahre gestiegen. Als die Aufklärung begann, starben selbst in den reichsten Weltgegenden ein Drittel der Kinder vor ihrem fünften Geburtstag; heute liegt die Kindersterblichkeit selbst in den ärmsten Ländern bei 6 Prozent. Und auch dort nehmen Infektionskrankheiten ständig ab; viele werden, wie die Pocken, bald der Vergangenheit angehören.

Auch die Armut schwindet. Die Welt ist heute etwa hundert Mal wohlhabender als vor zweihundert Jahren, und der Wohlstand ist gleichmässiger über Länder und Schichten verteilt. Es könnte sein, dass noch zu Lebzeiten der meisten Leser dieses Beitrags die Zahl der von extremer Armut Betroffenen gegen null tendieren wird. Verheerende Hungersnöte, mit denen in der Vergangenheit praktisch jederzeit zu rechnen war, gibt es nur noch in sehr abgelegenen oder von Krieg heimgesuchten Regionen, und auch der Kampf gegen Unterernährung zeitigt Fortschritte.

Nicht Pessimismus ist gut; Sachlichkeit und Genauigkeit sind es.
In den entwickelten Ländern nimmt zwar die Ungleichheit zu, nicht aber die Armut. Vor hundert Jahren setzten die reichsten Länder lediglich ein Prozent ihres Wohlstands für Arme, Kranke und Betagte ein, heute ist es beinahe ein Viertel. Die Armen werden mit Nahrung, Kleidung und Obdach versorgt; sie partizipieren an Neuerungen wie Smartphones und Klimaanlagen, von denen einst nicht einmal Begüterte zu träumen gewagt hätten. Unter Minderheiten und mehr noch unter den Betagten ist die Armutsrate spürbar gesunken.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass in der Hälfte aller Länder Minderheiten von Gesetzes wegen diskriminiert wurden; mittlerweile sind die Staaten, welche die Förderung von Minderheiten gesetzlich festgeschrieben haben, in der Mehrzahl gegenüber denjenigen, die noch eine diskriminierende Politik betreiben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Frauen nur in einem einzigen Land das Wahlrecht; heute gibt es nur noch ein Staatengebilde – den Vatikan –, das ihnen dieses Recht verweigert. Gesetze, die Homosexualität strafbar machen, gibt es immer weniger, und die Einstellung gegenüber Minderheiten, Frauen und Homosexuellen ist insbesondere in der jungen Generation in einem grundlegenden Wandel begriffen, der Gutes für die Zukunft verheisst.

Die Verbesserung der Lebensumstände erstreckt sich auch aufs Bildungswesen. Vor zweihundert Jahren konnten 12 Prozent der Weltbevölkerung lesen und schreiben; heute sind es 83 Prozent, Tendenz steigend. Bessere Bildung, Gesundheit und Wohlstand haben die Weltbevölkerung um durchschnittlich 30 IQ-Punkte klüger gemacht als unsere Vorfahren, und diese Verbesserungen schlagen sich auch im Arbeitsleben nieder. Die Amerikaner arbeiten wöchentlich 22 Stunden weniger als im späten 19. Jahrhundert und verlieren 43 Stunden weniger mit Haushaltsarbeiten; entsprechend ist der Freiraum für andere Aktivitäten gewachsen.

Pessimismus bringt nichts
Welcher Ursache verdanken wir diesen Fortschritt? Waltet im Universum eine historische Dialektik, steht über uns ein grosser Bogen, dessen Endpunkt Gerechtigkeit heisst? Die Antwort ist nicht so mysteriös: Die Aufklärung funktioniert. Unsere Vorfahren haben Dogma, Tradition und Autorität durch Vernunft, Debatte und der Wahrheitssuche verpflichtete Institutionen ersetzt. Wissenschaft trat an die Stelle von Aberglauben und Magie. Und die Werte verlagerten sich von Stamm und Nation, Rasse, Klasse oder Religion hin zu einem Ideal universalen menschlichen Wohlergehens.

Die Evidenz dieses Fortschritts wirft auch Fragen auf.

Es gibt Aktivisten, die Pessimismus für eine gute Sache halten – er sei ein Antrieb, Missstände aufzudecken, die Wohlstandsgesellschaft aufzurütteln, die Machthaber zur Rechenschaft zu ziehen. Aber nein. Nicht Pessimismus ist gut; Sachlichkeit und Genauigkeit sind es. Sicher müssen wir Leiden und Unrecht wahrnehmen, aber wir müssen uns auch im Klaren darüber sein, auf welche Weise sie gelindert werden können. Undifferenzierter Pessimismus kann in Fatalismus umschlagen und uns zur Überlegung verleiten, warum wir überhaupt Zeit und Geld investieren sollen, wenn die Lage ohnehin hoffnungslos ist. Und er kann zum Radikalismus führen – zu Destruktivität oder zum Glauben an einen charismatischen Tyrannen.

Ist Fortschritt unvermeidlich? Natürlich nicht! Lösungen können neue Probleme schaffen, die ihrerseits wieder gelöst werden müssen. Wir können jederzeit von bösen Überraschungen überrumpelt werden: Die beiden Weltkriege, Aids oder Drogenepidemien wären ein Beispiel dafür.

Und die grössten Herausforderungen, mit denen die Welt konfrontiert ist, sind nach wie vor unbewältigt. Das bedeutet nicht, dass sie unlösbar wären. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 ist ein historischer Markstein, und Optionen zur CO2-Reduktion – etwa durch Abgaben auf Treib- und Brennstoffe oder die Entwicklung neuer Technologien – liegen vor. Und seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind trotz Säbelrasseln hüben und drüben keine Atomwaffen mehr eingesetzt worden.

Sind die aufklärerischen Ideale zu lau, um unser Bauchgefühl anzusprechen?
Allerdings gibt gerade vor diesem Hintergrund die Politik des derzeitigen US-Präsidenten Anlass zur Sorge. Donald Trump negiert den Klimawandel, plant die Kündigung des Pariser Abkommens, befürwortet eine Aufstockung des Nukleararsenals und spielt gegenüber Nordkorea mit dem Feuer. Aber damit stellt er sich quer zu den Interessen der restlichen Welt, und zahlreiche Staaten, Unternehmen, Politiker und Repräsentanten der Armee sind bemüht, solche Auswüchse in Trumps Politik zurückzustutzen.

Zu lau?
Wie ist es um die Zukunft des Fortschritts bestellt? Die Errungenschaften der Vergangenheit sind keine Garantie, dass Fortschritt von selbst passiert; vielmehr sollten sie uns daran erinnern, was wir zu verlieren haben. Fortschritt ist ein Geschenk, das wir dem Geist der Aufklärung zu verdanken haben, und er wird so lange fortbestehen, wie wir diesen Idealen verpflichtet bleiben.

Sind die aufklärerischen Ideale zu lau, um unser Bauchgefühl anzusprechen? Ist der Sieg über Krankheit, Hunger, Armut, Gewalt und Unwissenheit . . . langweilig? Müssen Menschen an Magie glauben, an einen himmlischen Vater, einen starken Führer, an Mythen einer heroischen Vergangenheit?

Ich glaube nicht. Säkulare liberale Demokratien sind die glücklichsten und gesündesten Staatswesen und bevorzugtes Ziel derjenigen, die mit ihren Füssen abstimmen. Und wenn wir daran glauben, dass sich der grosse Entwurf der Aufklärung – der Einsatz von Wissen und Mitgefühl zum Wohl der gesamten Menschheit – verwirklichen lässt, dann gibt es kaum ein leuchtenderes Ideal, dem man sich verpflichten kann.

Steven Pinker ist Inhaber der Johnstone-Family-Professur am Fachbereich Psychologie der Harvard University. Der obige Essay, eine adaptierte Fassung aus Pinkers neuem Buch «Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress», erschien im «Wall Street Journal». Die NZZ veröffentlicht ihn in gekürzter Fassung. Aus dem Englischen von as.

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PS: Als überzeugter Christ kann ich zwar einem Teil seines finalen Fazits nicht folgen, aber findet man nicht überall ein Körnchen zum Mäkeln? ;-)

al_sting - Sonntag, 3. Februar 2019 - 13:41
Nachschlag aus der NZZ vom 02.02.2019: https://www.nzz.ch/feuilleton/die-aufklaerung-funktioniert-eine-verteidigung-von-steven-pinker-ld.1456042,

Die Welt wird immer besser. Aber je besser die Welt, desto krasser die Nörgelei!
Aufgeklärt, voraufgeklärt, falsch aufgeklärt: Steven Pinker kontert ein Jahr nach dem Erscheinen seines Bestsellers «Aufklärung jetzt» seine heissesten Kritiker. Ein Argumentarium gegen die notorischen Kulturpessimisten.

Es ist kaum zu glauben, dass eine Verteidigung von Vernunft, Wissenschaft und Humanismus zu Kontroversen führen sollte, zumal wir in einer Zeit leben, in der diese Ideale jede Hilfe brauchen können. Aber ein Kollege sagte mir: «Du hast die Köpfe der Leute explodieren lassen.»
Mein Buch «Aufklärung jetzt» ist deshalb von Kritikern auf der Linken wie auf der Rechten attackiert worden. Sie gaben der Aufklärung die Schuld für Rassismus und Imperialismus, existenzielle Bedrohungen und epidemische Einsamkeit, Depressionen und Suizid. Sie mäkelten, die Daten, die den Fortschritt belegen, beruhten nur auf Rosinenpicken. Und sie höhnten, mit kaum verhüllter Schadenfreude, die Aufklärung sei eine Idee mit Verfallsdatum, sie habe im Zeitalter des autoritären Populismus, der sozialen Netzwerke und der künstlichen Intelligenz keine Zukunft.
Deshalb nehme ich Stellung zu den Kontroversen, die im Jahr seit der Veröffentlichung von «Aufklärung jetzt» ausgebrochen sind. Ich denke also über den Stand des Projekts der Aufklärung und auch über ihre Feinde nach.

Erster Einwand
Herr Pinker, Sie verstehen die Aufklärung nicht. Es gab viele «Aufklärungen», nicht nur eine. Die Denker der Aufklärung waren nicht alle humanistische Wissenschafter, unter ihnen fanden sich auch Missionare oder Rassisten. Und was ist mit Rousseau, was mit Marx?
Die vielen Attacken gegen «Aufklärung jetzt», die uns belehren, was die Aufklärung «wirklich» war, verfehlen ihr Ziel. Mein Buch tritt, wie es sein Untertitel sagt, «für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt» ein; es setzt sich nicht einfach mit dem ganzen Haufen von Denkern des 18. Jahrhunderts auseinander.
Natürlich bleibt der Begriff unscharf, selbstverständlich gab es Einflüsse aus früheren Epochen und Auseinandersetzungen zwischen Autoren, so mit Rousseau, den Anthony Kenny als «gigantischen Kuckuck im Nest der Aufklärung» sieht. Die Frage, ob ein Denker zur Aufklärung zu zählen ist, lässt sich also nicht korrekt beantworten. Und es lässt sich nicht bestreiten, dass sich unter diesen Männern und Frauen des 18. Jahrhunderts auch Rassisten, Sexisten, Antisemiten und Sklavenhalter finden. Ich feiere denn auch nicht die Denker der Aufklärung, sondern ihre Ideen. Ich wählte für den Titel den Terminus «Aufklärung» einfach, weil er griffiger ist als «säkularer Humanismus», «liberaler Kosmopolitismus» oder auch «offene Gesellschaft».

Zweiter Einwand
Die Aufklärung verdient keine Feier. Sie brachte der Welt Rassismus, Imperialismus, Genozide und Sklaverei.
An dieser Behauptung ist nur richtig, dass einige dieser Übel auch nach dem 18. Jahrhundert herrschten. Davon abgesehen, geht das Argument genau andersrum: Jedes dieser Übel ist so alt wie die Menschheit, und erst im 18. Jahrhundert sahen sie Denker als moralische Probleme, die es zu lösen galt.
Der Rassismus lässt sich mit der menschlichen Neigung zur Xenophobie erklären: Wir lehnen Gruppen von Fremden ab, die sich in ihrer Erscheinung oder ihrer Lebensart von uns unterscheiden. Das zeigt sich zu allen Zeiten, auch bei den grössten Denkern. So lästerten Aristoteles über die Barbaren und Cicero über die Briten, die alten Griechen über die Afrikaner, die Spanier im Mittelalter über die Juden und die Europäer im 16. Jahrhundert über die Indianer.
Der Imperialismus geht ebenso auf die Antike zurück. Fast immer in der Geschichte galt für politische Führer: «Ich kam. Ich sah. Ich siegte.» (Die Liste auf Wikipedia umfasst 154 Reiche zwischen 2300 vor Christus und 1700 nach Christus, mit der Anmerkung: «Die Liste ist nicht komplett; du kannst mithelfen, sie zu ergänzen.») Erst in der Aufklärung stellten Denker das Recht der Europäer infrage, den Rest der Welt zu kolonisieren.
Diese neuen Antiimperialisten, wie Bentham, Diderot oder Kant, gingen von zwei Ideen aus: einerseits vom Prinzip, dass alle Menschen moralischen und politischen Respekt verdienten, einfach weil sie Menschen waren; anderseits von einer frühen evolutionären Anthropologie, wonach alle Völker ihre eigenen Kulturen schufen, um sich ihrer Umwelt anzupassen und in ihrer Gemeinschaft zusammenzuleben. Gestützt darauf verurteilten diese Denker alle Verletzungen der Würde und der Freiheit der Menschen, wie Sklaverei oder Imperialismus. Und sie verzichteten darauf, bei den Sitten und Gebräuchen der verschiedenen Völker zu werten.
Die Sklaverei gab es auch nicht erst im 18. Jahrhundert, wie alle wissen, die den Film «Spartacus» kennen: Zu allen Zeiten galten Sklaven als die begehrteste Beute von Eroberern. Der Aufklärung die Schuld für die Sklaverei zu geben, ist besonders lächerlich angesichts der Tatsache, dass die Sklavenbefreiung erst im 18. Jahrhundert einsetzte. Die Historikerin Katie Kelaidis stellt denn auch fest: «Jahrtausende lang klagten grosse Morallehrer über die Unmenschlichkeit der Sklaverei, aber keiner – nicht Jesus, nicht Buddha, nicht Mohammed, nicht Sokrates – dachte vor den Aufklärern an die Befreiung aller Sklaven.»
Es stimmt, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche Theorien zu rassistischen Hierarchien und ethnischen Nationalismen aufkamen, die zu den Weltkriegen und den Völkermorden des 20. Jahrhunderts führten. Wer diese Greuel der Aufklärung anlastet, macht aber denselben Denkfehler wie jene, die jedes Ereignis, das nach dem 18. Jahrhundert eintrat, darauf zurückführen. Ja, diese Kritiker unterschlagen die wichtigste intellektuelle Bewegung des 19. Jahrhunderts: die Gegenaufklärung.

Dritter Einwand
Wie können Sie sagen, wir sollten uns keine Sorgen machen, denn alles werde gut? Was ist mit dem Plastik in den Ozeanen? Mit der Opioidkrise? Mit den Amokläufen an Schulen? Oder mit den sozialen Netzwerken?
Beim Schreiben von «Aufklärung jetzt» machte ich dieselbe Erfahrung wie schon bei «Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit»: «Fortschritt» ist ein exotisches, kontraintuitives Konzept. Viele Leute meinen, bei der Frage, ob es den Fortschritt gibt, komme es darauf an, ob jemand Optimist oder Pessimist ist, also das Glas als halb voll oder als halb leer sieht.
Es geht bei dieser Frage aber nicht um Optimismus, sondern um das, was Hans Rosling «Factfulness» nannte: darum, unser Verständnis der Welt an der empirischen Realität zu kalibrieren. Wenn das Wohlbefinden sich nach allen Kriterien, wie Gesundheit, Einkommen, Wissen und Sicherheit, über die Zeit verbessert hat, können wir von Fortschritt sprechen. Tatsächlich stellen wir fest, dass es so ist. Wie Hans Rosling und andere gezeigt haben, verleugnen die meisten Leute den Fortschritt denn auch nicht aus Pessimismus, sondern aus Ignoranz.
Dass es den Fortschritt gibt, heisst allerdings nicht, dass es überall und jederzeit allen besser geht. Das wäre nicht Fortschritt, sondern ein Wunder. Der Fortschritt ist aber kein Wunder, er ist das Ergebnis des Lösens von Problemen. Probleme sind unvermeidlich, und Lösungen können zu neuen Problemen führen. Deshalb sehen wir, dass sich viele Aspekte des Lebens verbessern, einige aber verschlechtern. Die Frage, ob es den Fortschritt gibt, lässt sich nicht mit dem Aufstellen von Listen entscheiden, was in der Welt alles schiefläuft, wie es Journalisten gerne machen, damit sich ihr Publikum gruselt. Entscheidend ist die Antwort, die Barack Obama auf die Frage gab, wann wir leben wollten, wenn wir nicht wüssten, wer wir wären: «Jetzt.»
Der Fortschritt bedeutet nicht, dass die Welt perfekt ist, nur besser. Und er verleitet uns auch nicht dazu, das reale Leiden von Menschen und die sehr realen Gefahren für die Menschheit zu verkennen. Wir dürfen nicht aufhören, uns zu sorgen, weil ja alles gut wird. Wie es der Welt künftig geht, hängt davon ab, was wir jetzt tun. Und dabei kommt es darauf an, was wir als Fortschritt sehen.

Vierter Einwand
Alle Daten, die zeigen sollen, dass die Welt besser wird, sind doch pures Rosinenpicken.
Offenbar können ausgerechnet die Fortschrittlichsten nicht glauben, dass es den Fortschritt gibt. «Kennt jemand griffige Widerlegungen der neoliberalen und konservativen Daten zum sozialen Fortschritt der letzten dreissig Jahre?», fragte so der linke Aktivist David Graeber auf Twitter. «Diese Daten können nur von rechten Think-Tanks kommen. Wo finde ich die Daten der anderen Seite? Ich sehe keine.»
Fürwahr, denn das Bild der Welt, das «Aufklärung jetzt» zeigt, sammelt alle Rosinen. Ich fing mit den drei Variablen an, die alle, die über den sozialen Fortschritt nachdenken, als Grundlage für das Messen des Wohlbefindens anerkennen: Langlebigkeit, Vermögen und Bildung (also gesund, reich und weise sein). Dazu beschaffte ich Daten zu einem der psychologischen Gründe des Fortschritts, liberale Werte, und zu einem seiner psychologischen Ergebnisse, Glück. Auf jedem dieser Graphen ist der Fortschritt mit blossem Auge zu sehen.
Stellen wir diesem Bild der Welt die Alternative gegenüber, die uns die Medien zeigen. Journalismus ist per definitionem Rosinenpicken. Er berichtet von raren Ereignissen, wie Kriegen, Epidemien oder Katastrophen, nicht vom Alltag, also von Frieden, Gesundheit und Sicherheit. Diese Neigung zum Negativen verstärkt sich noch, weil die Journalisten um Klicks kämpfen und als Moralprediger ihr Publikum aus seiner Selbstzufriedenheit reissen wollen. Deshalb spottete das Satiremagazin «The Onion»: «CNN hält die Morgen-Meetings ab, um zu entscheiden, weshalb die Zuschauer den Tag lang in Panik ausbrechen sollen.»
Dagegen fordert uns die Umweltfrage tatsächlich heraus. Ich konnte keine Langzeit-Datenreihen zur Umweltqualität zeigen, weil es sie nicht gibt. Aber ohnehin behauptet niemand, der Zustand der Umwelt habe sich in den letzten 250 Jahren verbessert – im Gegenteil: Vieles am Fortschritt der Menschheit ging auf Kosten der Umwelt.
Immerhin gibt es Daten für das letzte Jahrzehnt im Environmental-Performance-Index. Ich stellte da fest, dass sie in 178 von 180 Ländern besser geworden sind, und zwar am deutlichsten in den am höchsten entwickelten. Vielleicht erholt sich die Umwelt also; dabei hilft, dass die Wachstumsrate der Bevölkerung seit ihrem Höhepunkt (schon 1962!) stark zurückgeht.
Natürlich gibt es alarmierende Trends, so die Zunahme des CO2-Ausstosses, den Verlust von Biodiversität oder den Rückgang der Trinkwasserreserven. Aber ich wollte nicht einen umfassenden Umweltbericht vorlegen, sondern nur dem Fatalismus entgegentreten, den die orthodoxen Journalisten und Aktivisten pflegen.

Fünfter Einwand
Wie erklären Sie Donald Trump? Den Brexit? Den autoritären Populismus? Zeugen sie nicht vom Ende der Aufklärung und von der Umkehr des Fortschritts?
Zwar bieten die Ideale der Aufklärung – Vernunft, Wissenschaft, kosmopolitischer Humanismus, demokratische Institutionen – die besten Aussichten für die Menschheit; sie leuchten den Menschen aber nicht zwingend ein. Die Leute fallen leicht zurück in Magie, Autoritätsglauben, Stammesdenken und Nostalgie nach einer goldenen Zeit. Und das Denken der Aufklärer hat sich auch nie wirklich durchgesetzt.
In einzelnen Phasen, die seit 1945 länger wurden, nahm zwar ihr Einfluss zu; sie kämpften aber immer gegen Romantiker, Nationalisten, Militaristen und andere Ideologen der Gegenaufklärung. Wie ich in «Aufklärung jetzt» feststelle, ist «die intellektuellen Wurzeln des Trumpismus» kein Oxymoron: Viele in Trumps Brain-Trust und in der Alt-Right-Bewegung berufen sich stolz auf Theoretiker der Gegenaufklärung. Deren Thesen können die Menschen in Phasen des ökonomischen, demografischen und kulturellen Wandels ansprechen, besonders jene Gruppen, die sich verachtet und abgehängt fühlen.
Bevor wir aber eine Zukunft sehen, die für immer wie ein Stiefel auf ein Gesicht tritt, sollten wir die Perspektiven des autoritären Populismus zurechtrücken. Trotz einigen Erfolgen scheint er zu stagnieren. Eine Mehrheit der Amerikaner hält an ihrer Ablehnung von Trump fest, und in Europa kamen die populistischen Parteien in den Wahlen von 2018 durchschnittlich nur auf 13 Prozent.
Und die Segmente, die der Populismus am stärksten anspricht, sind im Niedergang: ländliche Regionen, ältere und weniger gebildete Wähler, weisse Mehrheiten. Zudem führen uns die Querelen mit Trump und dem Brexit stets vor Augen, dass der Populismus in der Theorie besser funktioniert als in der Praxis.

Sechster Einwand
Was sagen Sie denn zur Epidemie von Einsamkeit, Depressionen und Suizid in den höchstentwickelten liberalen Gesellschaften?
Ich sage nichts zu dieser Epidemie, weil es sie nicht gibt. Zwar leiden Teile der Bevölkerung wirklich unter tragischen Schicksalen, vor allem weisse Amerikaner im mittleren Alter mit schlechter Ausbildung in ländlichen Gebieten. Aber der Glaube, die Menschen würden immer unglücklicher, ist ein Irrglaube, der sich hartnäckig hält.
Max Roser und Mohamed Nagdy zeigen in ihrer Studie «Optimism & Pessimism»: «In jedem Land meinen die Leute, die anderen seien weniger glücklicher, als sie es von sich selber sagen.» So glauben die Amerikaner, weniger als die Hälfte ihrer Landsleute seien glücklich; in Wirklichkeit sind es 90 Prozent.
Darüber hinaus zeigt «Our World in Data», dass seit 1994 die Prävalenz von psychischen Erkrankungen und Drogenmissbrauch etwa gleich geblieben ist und die Suizidrate um 38 Prozent abgenommen hat. Das lässt sich gemäss Studien aus China und Indien auch damit erklären, dass die Frauen mehr Freiheiten geniessen und sich dem Druck in ihren Dörfern entziehen.
Wir müssen also die hundert Jahre alte These von Emile Durkheim überdenken, dass die ländlichen Gemeinschaften mit ihrer Intimität und ihren Normen die Menschen vor Anomie und Suizid schützen. Aber darum scheren sich die Kritiker nicht, die sich nach dem traditionellen Landleben sehnen, das sie selber nie erdulden mussten.
Das Leben zwingt uns immer wieder, eine Wahl zu treffen. Die Freiheit in der modernen Gesellschaft, die es so noch nie gab, bietet uns auch die Möglichkeit, Intimität für Autonomie einzutauschen und Versuchungen zu erliegen, die langfristig für uns nicht gut sind. Wir brauchen unsere Freiheit nicht immer weise – seit je. Der Jurist Richard Posner wirft den Anklägern der Moderne denn auch vor, ihr Denkfehler sei «das Vergleichen einer idealisierten Vergangenheit, deren Laster sie verschweigen, mit einer dämonisierten Gegenwart, deren Tugenden sie übersehen».

Siebter Einwand
Die Aufklärung fällt ihren eigenen Schöpfungen zum Opfer: sozialen Netzwerken und künstlicher Intelligenz.
Das war 2018 die unwiderstehliche Storyline zum 200-Jahre-Jubiläum von Mary Shelleys «Frankenstein». Wie das Wiederbeleben eines Leichnams mittels Elektrizität ist das Verdrängen der Menschen durch künstliche Intelligenz aber eine Science-Fiction-Fantasie. In meinem Buch lege ich dar, weshalb uns die künstliche Intelligenz weder unterwerfen noch, als unbeabsichtigter Kollateralschaden, auslöschen wird.
Was die Supercomputer mit ihrem Deep Learning heute schaffen, erscheint uns zwar wie Magie. «Tief» ist an ihrem Lernen aber nur, dass sie aus zahlreichen Schichten bestehen; ihr Verständnis ist so dünn wie eine Zwiebelschale. Nach viel Training können sie Inputs verblüffend gut in Output umsetzen (so erkennt Facebook, ob jemand das Foto einer Person oder einer Katze hochlädt), doch sie verstehen nicht die Bedeutung dessen, was sie berechnen.
So kann das Programm für ein Videogame selbst mit kleinsten Veränderungen seiner Spielregeln nicht umgehen. Das ist der Grund, weshalb Experten meinen, die künstliche Intelligenz komme trotz ihren derzeitigen Erfolgen nicht weiter; für weitere Fortschritte brauche es ganz andere Algorithmen.
Als furchterregende Magie gelten derzeit auch die sozialen Netzwerke. Sie tragen angeblich die Schuld an jedem Problem des Planeten, vom Niedergang der Demokratie bis zu den Schwierigkeiten der Generation Z oder iGen, die nach 1995 geboren ist. Bevor wir die westliche Zivilisation abschreiben, sollten wir aber die historische Perspektive bewahren.
Neue Medien eröffnen meist einen Wilden Westen von Apokryphen, Plagiaten und Verschwörungstheorien, bevor Massnahmen greifen, die der Wahrheitsfindung dienen. Für solche Massnahmen setzt sich immer jemand ein, weil die Wahrheit ist, was nicht verschwindet, auch wenn wir nicht daran glauben. Es gibt deshalb so früh in der Geschichte der sozialen Netzwerke wenig Grund zu befürchten, dass sie in eine heimtückische Gehirnkontrolle ausarten, also die Demokratie und die anderen Institutionen der Aufklärung zerstören.

Achter Einwand
Die Leute sind irrational; sie scheren sich nicht um Fakten und Argumente. Was wollten Sie also mit «Aufklärung jetzt» erreichen?
Schon Thomas Paine schrieb: «Sich mit jemandem auseinanderzusetzen, der auf den Gebrauch des Verstands verzichtet, ist dasselbe, wie einem Toten Medizin zu verabreichen.» Ich habe «Aufklärung jetzt» nicht für Leute geschrieben, die sich nicht um Fakten und Rationalität scheren, sondern für Sie.
Tatsächlich gibt es noch Leute, die Fakten schätzen und Meinungen ändern, zumindest solange dies nicht ihren Glaubenssätzen widerspricht – vor allem, wenn sie die Informationen in Graphen präsentiert bekommen. (Davon gibt es 75 in «Aufklärung jetzt».) Ich kann mich denn auch, bei allen Mühen für meine Verteidigung, über das Echo nicht beklagen. Dankbar bin ich vor allem für drei Reaktionen:
Erstens luden mich mehrere Staatschefs oder ihre Berater zu Gesprächen ein. Sie suchten keinen politischen Rat, denn dafür bin ich nicht kompetent, sondern die Gelegenheit, über die Ziele einer liberalen, demokratischen Regierung nachzudenken. Es reicht nicht, kein Populist, kein Sozialist oder einfach ein Verwalter des Status quo zu sein. In einer Demokratie brauchen effektive Führungspersonen Überzeugungen, was die Werte, ja die Würde ihrer Mission angeht.
Die Ideale der Aufklärung sind ein guter Anfang; solche Sätze lassen sich kaum übertreffen: «Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Und dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten.»
Zweitens sahen Journalisten das Problem mit der zerstörerischen Negativität in ihrer professionellen Kultur. Sie verscheucht das Publikum: In einer internationalen Umfrage gaben kürzlich ein Drittel der Befragten an, sie nähmen die News nicht mehr zur Kenntnis. Denn die Nachrichten, die unsere Medien verbreiten, sagen wenig über den wahren Zustand der Welt. Sie schaden dem Glauben, dass es den Fortschritt gibt. Und sie schaffen perverse Anreize für Terroristen, Amokläufer und twitternde Politiker.
Drittens, und das ermutigt mich am meisten, schrieben mir Leser, «Aufklärung jetzt» habe ihr Leben verändert. Seit ich zum «Psychologen» gesalbt wurde, muss ich mich immer gegen die Erwartung verwahren, dass es mein Geschäft sei, für die geistige Gesundheit der Menschen zu sorgen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich diesen Anspruch vielleicht erfüllt.
So schrieb mir eine Lehrerin: «Ich kann jetzt jeden Tag mit meinen Schülern sprechen und ihnen den Kontext zu den furchterregenden Schlagzeilen bieten, über die sie diskutieren möchten. Und ich kann vor allem jede Nacht besser schlafen, weil ich weiss, dass es mit der Welt in die richtige Richtung geht. Danke, dass Sie uns die Mittel gegen diese Kultur des Schreckens geben. Dank Ihnen bin ich eine viel glücklichere Person und Lehrerin.»

Steven Pinker ist Professor für Psychologie an der Harvard University. Die ausführliche Originalversion dieses Essays mit Verweisen auf zahlreiche Kritiken und Rezensionen ist im Online-Magazin «Quillette» erschienen: «Enlightenment Wars: Some Reflections on ‹Enlightenment Now›, One Year Later». – Bearbeitung und Übersetzung: Markus Schär.

covacoro - Montag, 4. Februar 2019 - 18:09
Danke für den Thread erstmal, werde mich bemühen, mal etwas beizutragen :-)

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