Diskussionsforum der stw-boerse: Auslandswerte: Ungarn
chinaman - Samstag, 23. September 2006 - 08:52
Handelsblatt Nr. 182 vom 20.09.06 Seite 2


UNGARNS REGIERUNG steht nach dem Eingeständnis ihres Premiers, die Bevölkerung vor den Wahlen belogen zu haben, mit dem Rücken zur Wand. Auch in anderen EU-Beitrittsländern wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer politischen Führung.

Barrikaden in Budapest

REINHOLD VETTER | WARSCHAU Nach den schweren Krawallen in Budapest hat Ungarns Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany persönliche Konsequenzen aus dem Lügenskandal ausgeschlossen. Der Sozialist sagte, er sehe überhaupt keinen Grund abzutreten. Polizisten und regierungsfeindliche Demonstranten hatten sich in der Nacht zum Dienstag heftige Straßenschlachten geliefert. 150 Menschen wurden dabei verletzt. Die Landeswährung Forint gab gestern als Reaktion auf die politischen Turbulenzen zum Euro nach.

Am Mittag blieb es in der ungarischen Hauptstadt weitgehend ruhig: In der Stadt patrouillieren verstärkt Polizeieinheiten. Studentenführer haben angekündigt, noch diese Woche Massenproteste gegen die Sparpolitik der Regierung zu organisieren. Aus Berlin ist zu hören, dass Kanzlerin Angela Merkel Gyurcsany am Freitag auf jeden Fall empfangen will.

Auslöser für die Gewalt war eine parteiinterne Rede von Gyurcsany, deren Mitschnitt später an die Öffentlichkeit gelangte. Darin räumte der Premier ein, die Bürger vor den Parlamentswahlen im April systematisch belogen zu haben. Gyurcsany hatte vor allem den katastrophalen Zustand der Staatsfinanzen beschönigt. "Wir haben am Morgen, am Abend und in der Nacht gelogen", bekannte er. Allein in Budapest demonstrierten am Montagabend etwa 10 000 Menschen vor dem Parlamentsgebäude. Einige hundert Radikale verwüsteten anschließend das Gebäude des Rundfunks. Auch in anderen Städten wie Debrecen, Miskolc und Pecs kam es zu Demonstrationen, an denen sich jeweils Tausende beteiligten.

Der Sprecher der oppositionellen Bürgerbewegung Fidesz, Peter Szijarto, rechtfertigte indirekt den gewalttätigen Protest. "Angesichts der Lügen sind die Menschen von äußerster Verbitterung überwältigt worden", sagte er. Allerdings dürfte es den Bürgerlichen schwer fallen, ein Misstrauensvotum gegen Gyurcsany durchzusetzen, da die Koalition aus Sozialisten und Linksliberalen eine komfortable Mehrheit im Parlament besitzt. Liberalenchef Gabor Kuncze erklärte: "Es wäre unverantwortlich von Gyurcsany, gerade jetzt zurückzutreten."

Der Premier selbst gab sich entschlossen und kündigte an, mit aller Härte gegen gewaltbereite Demonstranten vorgehen zu wollen. "Nun müssen wir erst recht unser Programm durchsetzen", sagte er. Außerdem verwies er auf eine Umfrage des Instituts Szonda Impsos, aus der hervorgeht, dass 47 Prozent der Bürger für sein Verbleiben im Amt eintreten. Nur 43 Prozent fordern seinen Rücktritt. Für die sozialistische Partei erklärte ihr Vorsitzender Istvan Hiller: "Parteiführung und Parlamentsfraktion stehen geschlossen hinter Gyurcsany und seinem Programm." Beobachter gehen allerdings davon aus, dass die Sozialisten bei den Kommunalwahlen am 1. Oktober eine herbe Niederlage einstecken müssen.

Das von Gyurcsanys Regierung auch bei der EU in Brüssel vorgelegte Konvergenzprogramm sieht vor, das horrende Defizit im Staatshaushalt von gegenwärtig zehn Prozent des BIP auf 3,2 Prozent im Jahr 2009 zurückzuführen. Das entsprechende Maastricht-Kriterium, das Grundlage für die Übernahme des Euros ist, liegt bei drei Prozent. Deshalb gehen Analysten davon aus, dass Ungarn frühestens im Jahr 2014 die Gemeinschaftswährung einführen wird.

Grundlage des Konvergenzprogramms ist ein drastischer Sanierungsplan, der neue Steuern und eine Erhöhung der Sätze vorsieht. So sollen alle Unternehmen, die Gewinne ausweisen, eine " Solidaritätssteuer" von vier Prozent entrichten. Außerdem müssen alle Unternehmen eine "Erwartungssteuer" zwischen zehn und 16 Prozent auf den von ihnen prognostizierten Gewinn zahlen. Die Regierung begründet diese Steuer mit dem Hinweis, dass viele Firmen seit Jahren erhebliche Verluste auswiesen, was bei den Finanzämtern Zweifel hervorrufe.

Die Regierung plant weiterhin, den unteren Satz der Mehrwertsteuer von 15 Prozent auf 20 Prozent anzuheben. Vorgesehen ist außerdem die Streichung von rund sieben Prozent der etwa 300 000 Stellen im öffentlichen Dienst. Das radikale Sparprogramm wird Ungarns Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen. In seiner jüngsten Länderanalyse geht das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche davon aus, dass das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von etwa vier Prozent in diesem Jahr auf 2,3 Prozent 2007 sinken wird. Das Institut erwartet außerdem einen Rückgang der Industrieproduktion von neun auf acht Prozent sowie einen Anstieg der Arbeitslosenquote von 7,9 auf 8,5 Prozent.

Budapester Zeitungskommentatoren vermuten, auch der drastische Sanierungsplan habe die Proteste der vergangenen Tage hervorgerufen. "Nach den Lügen von Gyurcsany ist das Fass übergelaufen", heißt es.

Vetter, Reinhold



20. September 2006

prof - Samstag, 23. September 2006 - 11:01
UNGARNS REGIERUNG steht nach dem Eingeständnis ihres Premiers, die Bevölkerung vor den Wahlen belogen zu haben ...

Das ist der Unterschied: Bei uns fehlt das Eingeständnis und die Proteste der Bevölkerung gibt´s auch nicht!
Prof

chinaman - Dienstag, 26. September 2006 - 05:58
Handelsblatt Nr. 184 vom 22.09.06 Seite 3


Wirtschaft verlangt strikten Sparkurs von Ungarns Regierung

Proteste gegen Premier Gyurcsany flauen ab - Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr

MATHIAS BRÜGGMANN | BUDAPEST In- und ausländische Wirtschaftsvertreter in Ungarn drängen die sozial-liberale Regierung von Ferenc Gyurcsany, trotz der heftigen Proteste an ihrem harten Sparkurs festzuhalten. "Ungarn braucht endlich ein klares Sparprogramm, um sein Zwillingsdefizit bei Haushalt und Leistungsbilanz in den Griff zu kriegen , sagte Bernd Klett, Osteuropa-Analyst von DB Research.

Auslöser der Proteste war die Veröffentlichung eines Tonbandprotokolls aus einer Fraktionssitzung der regierenden Sozialisten (MZSP). Demnach sagte der Ministerpräsident kurz nach der Parlamentswahl vom 23. April, er habe die Öffentlichkeit über den Zustand der Wirtschaft belogen, um seine Wiederwahl zu sichern. Erst nach der Wahl bekannte sich Gyurcsany zu einem Sparprogramm, um das eklatant hohe Etatdefizit in den Griff zu bekommen.

Die Ausschreitungen gingen in der Nacht zu Donnerstag deutlich zurück. Zugleich stieg die Zahl der friedlichen Demonstranten, die vor dem Parlament Gyurcsanys Rücktritt verlangten, auf 15 000. Angesichts der weiter gespannten Lage sagte Ungarns rechte Oppositionspartei Fidesz eine für diesen Samstag geplante Massendemonstration überraschend ab.

Ökonomen wie Klett drängen die Regierung, den Protesten nicht nachzugeben. "Jetzt besteht die Gefahr, dass die Reformen verwässert werden, um die Demonstranten zu besänftigen. Das aber wäre aus Investorensicht negativ", sagt Klett. Sollte Gyurcsany seine Reformen abschwächen, würde sich die Euro-Einführung (die schon jetzt erst für 2016 erwartet wird) noch weiter verzögern. Zudem könnten sich ausländische Anleger zurückziehen.

Weitere spontane Proteste vor dem Parlament galten als nicht ausgeschlossen.Analysten und Firmenchefs setzten weiter auf Gyurcsany und dessen erst nach der Wahl verkündetes radikales Sparprogramm:.

Die Ratingagentur Fitch hat wegen der befürchteten Verlangsamung der Reformen am Donnerstag ihre Bewertung für ungarische Anleihen von A- auf BBB+ heruntergestuft. Standard & Poor's hat Ungarns Ausblick auf "negativ reduziert. Das Land hat mit zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das höchste Haushaltsdefizit aller EU-Staaten, und die Auslandsverschuldung steigt trotz der Sparappelle noch dieses Jahr auf fast 70 Prozent des BIP. Der Maastrichter Stabilitätspakt erlaubt nur 60 Prozent.

Im Wahlkampf hatte Gyurcsany Steuersenkungen versprochen, doch zum 1. September setzte er stattdessen massive Abgabenerhöhungen in Kraft: So kam auf die Körperschaftsteuer von 16 ein Solidaritätszuschlag von vier Prozent. Weitere Anstiege bei Steuern und Krankenkassenbeiträgen folgen, außerdem die Einführung von Studiengebühren. Zugleich ist eine Verwaltungsreform geplant, jeder zweite leitende Ministerialbeamte soll seine Stelle verlieren.

Ausländischen Investoren geht dieses Reformprogramm noch nicht weit genug. "Ungarn braucht jetzt eine Vision, wo das Land in zehn Jahren stehen soll und wie es diese Ziele erreichen will", fordert Gabriel Brennauer von der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer. Andererseits brauche das Land aber auch "kühle Köpfe in der Politik, die das Interesse des Landes über das Parteiengezänk stellen . Die Maßnahmen der Regierung erhöhten die Kosten für die Unternehmen und schwächten Ungarns Konkurrenzfähigkeit gegenüber seinen mitteleuropäischen Nachbarn.

"Die Steuern sind jetzt deutlich höher als in der Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Vor allem das IT-Outsourcing wird bereits nach Rumänien umverlagert , berichtet Katalin Tóth vom "Budapest Business Journal . Das Kabinett müsse dringend die stark gestiegenen Lohnsteuern senken, die bereits jetzt zum Arbeitsplatzabbau führten, und dafür die massiven Subventionen etwa für Mieter streichen.

Aber der "Lügen-Skandal des vom Musterknaben Europas zum Buhmann gewandelten Gyurcsany habe "den Inhalt der notwendigen Reformdebatte clever verändert , sagt Tóth. Dennoch rechne sie nicht mit Investitionsstreiks gegen Ungarn: "Westliche Analysten haben weltweit viel mehr Gewalt gesehen. Deshalb sind sie momentan nicht sehr nervös. Und auf Ungarns Konservative ist auch kein Verlass: Die sind noch viel populistischer in ihren Versprechen als die Sozialisten.

Brüggmann, Mathias



22. September 2006

chinaman - Mittwoch, 4. Oktober 2006 - 04:37
Handelsblatt Nr. 190 vom 02.10.06 Seite b02


EIN BUDAPESTER UNTERNEHMER beschreibt die Zerrissenheit seiner Heimat

Seismograph für Wirtschaftskrisen

MATHIAS BRÜGGMANN | BUDAPEST István Préda ist so etwas wie Ungarns Seismograph. Als Inhaber und Manager von Magánbankár, einem Spezialisten für Übernahmen und Fusionen, holt der 39-Jährige Kapital oder Käufer für ungarische Unternehmen an die Donau. Bebt die politische Landschaft, dann laufen die Geschäfte schlecht.

Die Straßenschlachten, die nach dem "Lügen-Geständnis" der Regierung in Budapest tobten, registrierte der Seismograph als schwere Erschütterung des Vertrauens potenzieller Investoren: "Diese Unsicherheit ist schlecht für die Wirtschaft", sagt Préda, der den bei Managern beliebten Newsletter "Hungarian Tiger" herausgibt. "Sie bringt miese PR und verschlechtert das Image Ungarns im Ausland. Wir haben schon erste Hinweise bekommen, dass Investoren jetzt erst einmal abwarten."

Für die Ungarn selbst sei das Eingeständnis der Regierung eher so etwas wie ein heilsamer Schock gewesen. Schon bald würden sie den Ernst der Lage begreifen, den sie bislang immer verdrängt hätten. Außerdem gehörten wiederkehrende Krisen zum Leben der Magyaren. Nach der letzten Erschütterung im Jahr 1995 sei es wieder nach oben gegangen, und die Regierung habe das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Leider habe sie dabei "vergessen", den Staatshaushalt im Blick zu behalten. Deshalb deute sich jetzt das nächste Beben an: ein Budgetloch von zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. "Nun ist wieder Zeit für ein radikales Sparprogramm", so Préda. Wenigstens helfe der Verfall der Landeswährung Forint infolge der Volksproteste den ungarischen Exporten.

Dass Ungarns "derzeit wohl aufregendster Unternehmer", wie Katalin Tóth vom "Budapest Business Journal" Préda nennt, die derzeitige Lage so nüchtern beschreibt, ist auch in der historischen Erfahrung begründet: Angesichts der tiefen Spaltung des Landes werde sich die Lügen-Affäre von Premier Ferenc Gyurcsany nicht zu einer Dauerkrise auswachsen. Bis heute seien die Ungarn "wegen ihrer emotionalen Bindungen zu verschiedenen Epochen" tief gespalten: In Anhänger der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und Verfechter des Regimes gleich danach. Diese Konstellation führe dazu, dass viele Menschen nie zur bürgerlichen Opposition überlaufen würden - selbst dann nicht, wenn sie sich von Gyurcsány massiv betrogen fühlten.

Wie zerrissen die Republik auch nach dem EU-Beitritt 2004 noch immer ist, zeigt sich auch an Préda selbst. Mehrfach bittet der Finanzexperte, "absolut neutral" über ihn zu schreiben: "Denn ich bekomme Aufträge aus beiden Lagern, und ich will nicht die Hälfte verlieren, wenn ich als Anhänger der einen oder der anderen Partei zu erkennen wäre."

Auch Prédas Leben ist nicht frei von Brüchen: Im Jahr 1985, als Michail Gorbatschow mit der Glasnost-Bewegung die Implosion der Sowjetunion einleitete, begann er in Russland sein Wirtschaftsstudium. Da er schon immer Unternehmer werden wollte, habe er nie an die kommunistische Ideologie geglaubt, berichtet Préda. Vier Jahre später konnte er im Rahmen des ersten Studentenaustauschprogramms im Westen Freiheit atmen, erst in den Niederlanden, dann in Großbritannien. 1991 ging er dann zu den Wirtschaftsprüfern der KPMG, drei Jahre später zur Osteuropaförderbank EBRD. "Doch ich wollte zurück in die Privatwirtschaft", erzählt Préda.

Also wechselt er zur ABN Amro-Bank in Budapest, doch wenig später folgt der Rauswurf: "Weil ich weniger eingespielt habe als mein Gehalt", begründet Préda den Karriereknick. Es ist diese erfrischende Offenheit, die ihm das Vertrauen vieler Firmenverkäufer eingebracht hat. Seit vier Jahren ist der Mann, in dessen Schläfen sich das erste Grau mischt und dessen Stirn immer höher wird, mit eigener Firma im Geschäft mit Firmenverkäufen aktiv: "Wir sind die Agenten der Konsolidierung und bringen durch M&A dynamische ungarische Unternehmen nach Europa", umreißt Préda seine Arbeit.

Die Kunden des vierfachen Familienvaters, der wegen der Kinder inzwischen von Zuhause arbeitet und nur für Meetings ins Budapester Büro seiner Firma fährt, sind vor allem die Gründer aus der Zeit Anfang der 1990er-Jahre, die jetzt bald 60 werden und umsatteln wollen. Oder er sucht Partner für Unternehmer, deren Firma zu groß geworden ist, um sie alleine managen zu können. "Nur Kunden, die älter als 65 sind, nehme ich nicht", verrät Préda. "Sie können sich am Ende doch nicht trennen und verkaufen nie."

Auf die Frage, warum Investoren ausgerechnet in Ungarn ein Unternehmen kaufen sollten, hat Préda schnell eine Antwort parat: In der Konkurrenz mit vielen Nachbarländern habe seine Heimat noch Vorteile, so der Manager: die Nähe zu Westeuropa, ein gutes Ausbildungssystem, eine intakte Infrastruktur und qualifizierte Arbeitskräfte. Nur beim Beitritt zur Euro-Zone könnten die Slowakei, Tschechien und andere osteuropäische Länder Ungarn abhängen, glaubt Préda - wegen der verheerenden Haushalts- und Verschuldungslage seiner Heimat.

Brüggmann, Mathias



02. Oktober 2006

chinaman - Samstag, 7. Oktober 2006 - 05:36
Handelsblatt Nr. 190 vom 02.10.06 Seite b01


Budapest spart sich gesund

Steuererhöhungen flankieren Einsparungen

REINHOLD VETTER | BUDAPEST In Ungarn schlagen die Wellen der Empörung hoch, aber der sozialistische Regierungschef Ferenc Gyurcsany ist fest entschlossen, die total zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. "Das Konvergenz- und Sparprogramm, das wir jetzt auf den Weg gebracht haben, dient der Nachhaltigkeit unseres wirtschaftlichen Wachstums. Nur so werden wir auch das Vertrauen in unsere Wirtschaft wieder stärken", sagte Gyurcsany im Gespräch mit dem Handelsblatt.

Sein Konvergenzprogramm wurde inzwischen von der EU-Kommission gebilligt. Auch Zentralbankchef Zsigmond Jarai signalisiert vorsichtige Zustimmung. Und internationale Investoren stehen ebenfalls auf Gyurcsanys Seite. All das ist aber noch keine Garantie dafür, dass den guten Vorsätzen auch Taten folgen. So könnten die Proteste im Winter wieder aufflammen, wenn die Lebensbedingungen vieler Bürger besonders schwierig sind.

Das Konvergenzprogramm sieht vor, das Etatdefizit von gegenwärtig gut zehn Prozent auf 3,2 Prozent im Jahr 2009 zu senken. Gleichzeitig soll die gesamte öffentliche Verschuldung nur noch geringfügig von 68,5 Prozent des BIP auf 70,4 Prozent ansteigen. Die Situation sei sehr ernst, mahnte EU-Kommissar Joaquín Almunia. "Aber sie überrascht uns auch nicht". Tatsächlich hatte die Kommission schon kurz nach der EU-Erweiterung 2004 ein Defizitverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Auch die Mahnungen der Kommission und des Rats der Finanzminister wurden in Budapest ignoriert.

Grundlage des Konvergenzprogramms ist ein drastischer Sparplan. Zum einen soll die Zahl der Beschäftigten in den Ministerien um ein Viertel gekürzt werden, flankiert durch eine Senkung der operativen Kosten des Regierungsapparats. Zum zweiten ist eine so genannte Solidaritätssteuer von vier Prozent auf Unternehmensgewinne sowie auf private Einkommen von monatlich mindestens 2 000 Euro geplant. Parallel dazu wird der untere Satz der Mehrwertsteuer von 15 auf 20 Prozent angehoben. Hinzu kommt eine neue Steuer auf Zins- und Kursgewinne. Und schließlich ist drittens die Anhebung der Beiträge zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung geplant, die zusammen mit der Mehrwertsteueranhebung besonders die breiten Bevölkerungsschichten treffen wird.

National wie international wird positiv vermerkt, dass mit Gyurcsanys Kabinett zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren eine Regierung Klartext redet. "Ein großes Verdienst besteht darin, dass die Lage der öffentlichen Finanzen in keiner Weise geschönt wird", sagt Sandor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche.

Der Geschäftsführer der Deutsch-ungarischen Industrie- und Handelskammer, Gabriel Brennauer, betont, in dieser Situation sei eine massive Erhöhung der Staatseinnahmen zur Budgetsanierung dringend notwendig. Die deutschen Investoren wollten ihren Beitrag dazu zu leisten. "Aber das Sparpaket muss dringend durch klare Reformschritte ergänzt werden, die langfristig die Ausgabenstruktur des Staatshaushalts in Ordnung bringen", betont Brennauer. Damit meint er insbesondere eine durchgreifende Reform des Rentensystems und des Gesundheitswesens. Viele Kammer-Mitglieder befürchten, das Sparpaket werde ihre Kosten erhöhen. Bestimmt müsse man mit Forderungen nach erheblichen Lohn- und Gehaltserhöhungen rechnen, heißt es. Auch die Inflation und steigende Zinsen werde man zu spüren bekommen.

In ihrem Konvergenzprogramm erwartet die Regierung einen massiven Einbruch der Konjunktur als Folge der Sparmaßnahmen. Das Wachstum werde von 4,1 Prozent in diesem Jahr auf 2,3 Prozent im kommenden Jahr zurückgehen. Brennauer erwartet sogar nur 1,9 Prozent. Optimistischer gibt sich Richter in Wien, der 2,7 Prozent prognostiziert. Gemeinsam gilt die Auffassung, dass höhere Wachstumsraten wohl erst wieder um 2010 zu erwarten sind.

Aber in der ungarischen Öffentlichkeit wird nicht nur über die ökonomischen Folgen des Sparprogramms diskutiert. Man wirft auch die Frage auf, welche politischen Faktoren Gyurcsany möglicherweise von seinem Kurs abbringen könnten. Im Zentrum der Debatte stehen dabei mögliche Folgen der Kommunalwahlen am vergangenen Wochenende. Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Erlitten die Sozialisten von Gyurcsany und die mit ihnen regierenden Linksliberalen eine verheerende Niederlage, dürfte es ihnen schwer fallen, am Sparprogramm festzuhalten. Unter dem Druck der bürgerlichen Opposition kann es zu Spannungen zwischen den Koalitionären und auch zu Widersprüchen in Gyurcsanys sozialistischer Partei kommen, die bislang mehr schlecht als recht das Sparpaket unterstützt.

Konnten sich Sozialisten und Linksliberale bei den Wahlen einigermaßen behaupten, dürfte der Realisierung des Programms wenig entgegenstehen. Es sei, die Straßenproteste flammen wieder auf, weil sich die Bürgerlichen die schwierigen Lebensbedingungen vieler Bürger in den Wintermonaten zunutze machen. Gyurcsany selbst hat schon klar gemacht, dass er sein politisches Schicksal als Regierungschef fest an eine erfolgreiche Sanierung der Staatsfinanzen binden will: "Sollte dies nicht gelingen, dann könnte es sein, dass ihr mich nicht mehr braucht", sagte er zu seinen Parteigenossen aus der Parlamentsfraktion der Sozialisten. Dann bedürfe es "eines anderen". Das Problem der Sozialisten besteht allerdings darin, dass sie keine personelle Alternative zu ihrem jetzigen Vormann haben.

Vetter, Reinhold



02. Oktober 2006

Diskussionsforum der stw-boerse: Auslandswerte: Ungarn
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